Die schönsten Märchen von Andersen
H.C. Andersen (Seite 2)
27Feder und Tintenfaß
In der Stube eines Dichters, wo sein Tintenfaß auf dem Tisch stand, wurde gesagt: Es ist merkwürdig, was doch alles aus dem Tintenfaß herauskommen kann! Was wohl nun das Nächste sein wird? Ja, es ist merkwürdig! Ja, freilich! sagte das Tintenfaß. Es ist merkwürdig, was alles aus mir herauskommen kann! Ja, es ist schier unglaublich! Und ich weiß wirklich selber nicht, was das Nächste sein wird, wenn der Mensch erst beginnt, aus mir zu schöpfen. Ein Tropfen aus mir genügt für eine halbe Seite Papier, und was kann nicht alles auf der stehen! Ich bin etwas ganz Merkwürdiges! Von mir gehen alle WerLies das Märchen → 30Der unartige Knabe
Es war einmal ein alter Dichter, ein richtiger guter, alter Dichter. Eines abends, als er zu Hause saß, zog ein schreckliches Unwetter draußen herauf. Der Regen strömte hernieder, aber der alte Dichter saß warm und gut an seinem Kachelofen, wo das Feuer brannte und die Äpfel brutzelten. An den Armen, die in diesem Wetter draußen sind, bleibt kein Faden trocken! sagte er, denn er war ein guter Dichter. O, mach mir auf! Mich friert, und ich bin ganz naß! rief ein kleines Kind draußen. Es weinte und klopfte an die Tür, während der Regen strömte und der Sturm an allen Fenstern rüttelte. Du armer KLies das Märchen →
31Des Kaisers Nachtigall
In China, weißt du ja wohl, ist der Kaiser ein Chinese, und alle, die er um sich hat, sind Chinesen. Es sind nun viele Jahre her, aber gerade deshalb ist es wert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessen wird. Des Kaisers Schloß war das prächtigste der Welt, ganz und gar von feinem Porzellan, so kostbar, aber so spröde, so mißlich daran zu rühren, daß man sich ordentlich in acht nehmen mußte. Im Garten sah man die wunderbarsten Blumen, und an die allerprächtigsten waren Silberglocken gebunden, die erklangen, damit man nicht vorbeigehen möchte, ohne die Blumen zu bemerken. Ja, alles war in deLies das Märchen → 32Die Geschichte von einer Mutter
Eine Mutter saß bei ihrem kleinen Kinde. Sie war so betrübt und hatte so große Angst, daß es sterben würde. Es war so bleich; die kleinen Augen hatten sich geschlossen. Der Atem ging ganz leise, nur mitunter tat es einen tiefen Zug gleich einem Seufzer, und die Mutter blickte immer sorgenvoller auf das kleine Wesen. Da klopfte es an die Tür, und herein kam ein armer, alter Mann, der, wie es schien, in eine große Pferdedecke gehüllt war; denn die wärmt, und das tat ihm not; es war ja kalter Winter. Draußen lag alles mit Eis und Schnee bedeckt, und der Wind blies, daß es einem ins Gesicht schnitLies das Märchen → 33Tölpel-Hans
Tief im Innern des Landes lag ein alter Herrenhof; dort war ein Gutsherr, der zwei Söhne hatte, die sich so witzig und gewitzigt dünkten, daß die Hälfte genügt hätte. Sie wollten sich nun um die Königstochter bewerben, denn die hatte öffentlich anzeigen lassen, sie wolle den zum Ehegemahl wählen, der seine Worte am besten zu stellen wisse. Die beiden bereiteten sich nun volle acht Tage auf die Bewerbung vor, die längste, aber allerdings auch genügende Zeit, die ihnen vergönnt war, denn sie hatten Vorkenntnisse, und wie nützlich die sind, weiß jedermann. Der eine wußte das ganze lateinische WörLies das Märchen → 34Großmütterchen
Großmutter ist so alt, sie hat gar viele Runzeln und ganz schneeweißes Haar, aber ihre Augen leuchten wie zwei Sterne; ja sie sind eigentlich viel schöner, sie sind so milde, daß es von Herzen wohltut, in sie hineinzuschauen. Sie weiß die herrlichsten Geschichten und hat ein Kleid mit großen, großen Blumen an; das ist aus so dickem Seidenzeug, daß es bei jeder Bewegung rauscht. Großmutter weiß so viel, denn sie hat viel länger als Vater und Mutter gelebt, das ist ganz gewiß. Großmutter hat ein Gesangbuch mit dicken Silberbeschlägen, und darin liest sie oft. Mitten in dem Buche liegt eine Rose,Lies das Märchen → 35Der Engel
Jedesmal, wenn ein gutes Kind stirbt, kommt ein Engel Gottes zur Erde hernieder, nimmt das tote Kind auf seine Arme, breitet die großen, weißen Flügel aus und pflückt eine ganze Handvoll Blumen, die er zu Gott hinaufbringt, damit sie dort noch schöner als auf der Erde blühen. Gott drückt sie dort an sein Herz, aber der Blume, die ihm die liebste ist, gibt er einen Kuß, und dann bekommt sie Stimme und kann in der großen Glückseligkeit mitsingen. Sieh, alles dieses erzählte ein Engel Gottes, während er ein totes Kind zum Himmel forttrug, und das Kind hörte wie im Traume; sie flogen über die StätLies das Märchen → 37Der Wind erzählt von Waldemar Daa und seinen Töchtern
Wenn der Wind über das Gras dahinläuft, kräuselt es sich wie ein Gewässer, läuft er über die Saaten hin, dann wogen und wallen sie wie die hohe See; dies ist des Windes Tanz; doch der Wind tanzt nicht nur, er erzählt auch, und wie singt er dann alles so recht aus voller Brust heraus, und wie klingt es gar verschieden in des Waldes Wipfeln, durch die Schallöcher und Ritzen und Sprünge der Mauer! Siehst du, wie der Wind dort oben die Wolken jagt, als seien sie eine verängstigte Lämmerherde! Hörst du, wie der Wind hier unten durch das offene Tor heult, als sei er ein Wächter und blase in sein HorLies das Märchen → 39Der Reisekamerad
Der arme Johannes war tief betrübt, denn sein Vater war sehr krank und hatte nur noch Stunden zu leben. Niemand außer den beiden war in der kleinen Stube. Die Lampe auf dem Tisch war dem Erlöschen nahe, und es war schon später Abend.– Du warst mir ein guter Sohn, Johannes! sagte der kranke Vater, der liebe Gott wird dir schon weiterhelfen im Leben! Und er sah mit ernsten, milden Augen auf ihn, holte noch einmal tief Luft und starb; es war gerade, als ob er schliefe. Aber Johannes weinte, denn nun hatte er niemanden in der ganzen Welt, weder Vater noch Mutter, weder Schwester noch Bruder mehr.Lies das Märchen → 40Der Floh und der Professor
Es war einmal ein Luftschiffer, dem ging es verkehrt, der Ballon zersprang, der Mann plumpste herunter und ging in Stücke. Seinen Jungen hatte er zwei Minuten früher mit dem Fallschirm herabgeschickt, das war des Jungen Glück, er blieb unbeschädigt und ging umher mit großen Vorkenntnissen, um Luftschiffer zu werden, aber er hatte keinen Ballon und auch nicht die Mittel, sich einen zu verschaffen. Leben mußte er, und so verlegte er sich auf die Künste der Behendigkeit und darauf, mit dem Leib reden zu können, das heißt, Bauchredner zu sein. Jung war er und sah gut aus, und als er einen Bart bekLies das Märchen → 41Der Traum der alten Eiche (Ein Weihnachtsmärchen)
Da stand einmal im Walde, an der Steilküste des Meeres, so eine recht alte Eiche, die gerade dreihundertfünfundsechzig Jahre zählte. Aber diese lange Zeit hatte für den Baum nicht mehr zu bedeuten, als ebenso viele Tage für uns Menschen. Wir wachen am Tage, schlafen des Nachts und haben dann unsere Träume; aber mit dem Baume ist es anders, der Baum wacht drei Jahreszeiten hindurch, erst gegen den Winter versinkt er in Schlaf, der Winter ist seine Schlafzeit, er ist seine Nacht nach dem langen Tage, der Frühling, Sommer und Herbst heißt. Manchen warmen Sommertag hatte die Eintagsfliege um seineLies das Märchen → 42Wie's der Alte macht, ist's immer richtig
Eine Geschichte werde ich dir erzählen, die ich hörte, als ich noch ein kleiner Knabe war. Jedesmal, wenn ich an die Geschichte dachte, kam es mir vor, als würde sie immer schöner; denn es geht mit Geschichten wie mit vielen Menschen, sie werden mit zunehmendem Alter schöner. Auf dem Lande warst du doch gewiß schon einmal; du wirst wohl auch so ein recht altes Bauernhaus mit Strohdach gesehen haben. Moos und Kräuter wachsen von selber auf dem Dach; ein Storchennest befindet sich auf dem First desselben, der Storch ist unvermeidlich! Die Wände des Hauses sind schief, die Fenster niedrig, und nuLies das Märchen → 44Die Windmühle
Da stand eine Windmühle auf dem Hügel, stolz anzusehen, und stolz fühlte sie ich: Ich bin durchaus nicht stolz, sagte sie, aber ich bin sehr aufgeklärt, außen und innen. Sonne und Mond habe ich zu auswärtigem Gebrauch und zum inwendigen auch, und dann habe ich außerdem Stearinlicht, Öllampen und Talgkerzen, ich darf sagen, daß ich aufgeklärt bin; ich bin ein denkendes Wesen und so wohlgebaut, daß es ein Vergnügen ist. Ich habe ein gutes Mahlwerk in der Brust, ich habe vier Flügel, und die sitzen mir oben am Kopf, gerade unter dem Hut; die Vögel haben nur zwei Flügel, und müssen sie auf dem RücLies das Märchen → 46Der Tannenbaum
Draußen im Walde stand ein niedlicher, kleiner Tannenbaum; er hatte einen guten Platz, Sonne konnte er bekommen, Luft war genug da, und ringsumher wuchsen viel größere Kameraden, sowohl Tannen als Fichten. Aber dem kleinen Tannenbaum schien nichts so wichtig wie das Wachsen; er achtete nicht der warmen Sonne und der frischen Luft, er kümmerte sich nicht um die Bauernkinder, die da gingen und plauderten, wenn sie herausgekommen waren, um Erdbeeren und Himbeeren zu sammeln. Oft kamen sie mit einem ganzen Topf voll oder hatten Erdbeeren auf einen Strohhalm gezogen, dann setzten sie sich neben denLies das Märchen → 50Die alte Straßenlaterne
Hast du die Geschichte von der alten Straßenlaterne gehört? Sie ist gar nicht sehr belustigend, doch einmal kann man sie wohl hören. Es war eine gute, alte Straßenlaterne, die viele, viele Jahre gedient hatte, aber jetzt entfernt werden sollte. Es war der letzte Abend, an dem sie auf dem Pfahle saß und in der Straße leuchtete, und es war ihr zumute wie einer alten Tänzerin, die den letzten Abend tanzt und weiß, daß sie morgen vergessen in der Bodenkammer sitzt. Die Laterne hatte Furcht vor dem morgigen Tage, denn sie wußte, daß sie dann zum erstenmal auf das Rathaus kommen und von dem hochlöblLies das Märchen →